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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Ralf TurtschiEs ist ein wesentlicher Unterschied, ob ich im Gestaltungsprozess auf der Empfänger- oder auf der Absenderseite stehe. Als Empfänger kann ich ungestraft so empfinden, wie ich will; keiner wird wegen seines Geschmacks abgestraft. So kann ich Olivenglace köstlich finden, 25 Grad warmen Rotwein oder Andy Warhol mögen. Der Konsum von etwas, das mit Sinnlichkeit zu tun hat, ist eine höchst persönliche Sache. Und das ist auch gut so.

Ganz anders sieht es aus, wenn man etwas produziert, das möglichst viele Geschmäcker treffen soll: bei Konsumgütern aller Art. Wir dürfen auch visuelle Dinge wie Fotos, Grafikdesign oder Typografie dazuzählen. Wer also kommerziell gestaltet, ist nicht primär seinem eigenen Geschmacksempfinden verpflichtet, sondern will einer definierten Zielgruppe gerecht werden. Ein Künstler mag sich nur um seinen Ausdruck, um seinen Stil kümmern. Im Auftragsgeschäft sind es oft die Auftraggeber, die mit der Gestaltung eine verkaufsfördernde Wirkung erzielen wollen. Da sind enge Regeln des Corporate Image oft vordergründig. Wer weiss, welche Designs gerade in welchem Umfeld angesagt sind, welches die Sehensweisen von Konsumenten sind, wer auf welche Art schaut, erkennt und liest, der sollte diese Erkenntnisse einsetzen und nicht einfach nach seinen persönlichen Vorlieben agieren.

Gerade im Plakatdesign treten gravierende Mängel zutage. Weisse Schriften auf hellblauem Grund, viel zu klein und völlig unleserlich, überfordern jeden Automobilisten. Plakate, die in zwei Sekunden komplexe Bildgeschichten erzählen wollen, zeugen von Dilettantismus erster Güte. Ein Plakat funktioniert wie eine Ohrfeige, sie muss sofort kleben. Kein Mensch lässt sich auf einen Boxkampf über neun Runden ein – jede Textfülle ist herausgeworfenes Geld. Wenn ein Plakat nicht wie eine Ohrfeige sitzt, funktioniert es nicht. Man kann es auch positiv sehen: Solche Arbeiten sind immerhin finanzielle Zuwendungen für die Werbe- und Druckbranche. Die Auftraggeber dürfen dann allerdings nicht reklamieren, dass Werbung nichts nützt. So nicht.

Elementar wichtig für Auftraggeber und Gestalter sind die Gestaltungsgesetze. Ihnen kann niemand entrinnen. Die Art und Weise, wie wir sehen, ist empirisch dokumentiert und auch mit der eigenen Seherfahrung nachzuvollziehen. Es gilt also die Wirkungsweise von visuellen Elementen und nicht, ob einem etwas gefällt oder nicht. Wir gestalten wirkungsorientiert – nicht für uns selbst, sondern für unsere vermeintliche Zielgruppe. In dieser Denkweise bewegen sich Designerinnen von Babysachen in Rosa und Hellblau. Schwarz, Braun, Violett oder Grau liesse sich kaum verkaufen.

Im Schulbetrieb sind die Gestaltungsgesetze in der Formenlehre und Farbenlehre verankert. Nach diesen Gesetzen können wir herleiten, dass es so etwas wie ein objektives Empfinden gibt. Alle Menschen «sehen» mit den gleichen Organen, mit dem Auge-Hirn-System und dem Gleichgewichtssinn in den Ohren. Wir wissen in allen Lagen, wo oben und unten ist, was dunkel und hell bedeutet oder was eine warme Farbe ist. Wir wissen automatisch, was nah oder fern ist, deutlich oder schemenhaft, gross oder klein. Selbst Babys erkennen automatisch die Eltern, sie können durch ein Lächeln reflexartig Freude ausdrücken. Es gibt eine ganze Reihe von wichtigen Gesetzmässigkeiten, und wer sie leichtfertig missachtet, wird nicht erfolgreich sein.

Das Figur-Grund-Gesetz

Wir sind durch unser dreidimensionales Erkennen in der Lage, ein Objekt vor einem Hintergrund herauszulösen (Figur/Grund). Wie passiert das? Es gibt Erkennungsmerkmale, die es dem Hirn erlauben, den Vordergrund vom Hintergrund zu trennen. Beim perspektivischen Sehen ist es natürlich, dass sich das gesamte Sehfeld immer bewegt: Je näher die Objekte den Augen stehen, desto mehr bewegen sie sich, bei jeder Kopfdrehung und jeder Körperbewegung. Die Relation zum unbeweglichen Hintergrund (z. B. Horizont) macht die Unterscheidung aus. Bei reproduzierten Motiven fehlt diese Orientierung, da wird Tiefe mit verschiedenen Mitteln suggeriert:

Kontrast: Ein grosser Kontrast zwischen der Figur und dem Hintergrund trennt: Farbkontrast, Helligkeitskontrast oder auch Formkontrast.

Grössenunterschied: Bei Figuren, die unterschiedlich gross dargestellt sind, verweist die Grösse auf Nähe. Menschen vorn sind grösser als Menschen, die hinten dargestellt sind.

Verblassende Farben: Der Dunst in der Luft lässt Farben in der Ferne verblassen. Knallige Farben erzeugen deshalb mehr Nähe und Realitätsbezug als vornehme Blässe. Dies gilt auch für die momentan hippe Art, Fotografie und Film auszubleichen.

Unschärfe: Bei offener Blende entsteht eine Herauslösung der Figur, die scharf abgebildet ist, währenddessen der Hintergrund in der Unschärfe verschwimmt. Die Unschärfe ist etwas Unnatürliches, die so eigentlich nicht existiert. Wir können nicht etwas fokussieren und bewusst unscharf sehen.

Abdeckung: Ein vorderes Objekt verdeckt ein unmittelbar dahinterliegendes. Auch wenn auf der flachen Abbildung die Tiefe fehlt, sagt uns die Erfahrung, was vorn und hinten ist. Die dreidimensionale Tiefe wird simuliert.

Perspektive: Das dreidimensionale Sehen ist immer auch ein perspektivisches Sehen. Es existieren in der Theorie einige Perspektiven, nur die Fluchtpunktperspektive ist für uns hier interessant. Sie besagt, dass parallel laufende optische Kanten, wie sie bei Gebäuden vorkommen, zum Horizont hin zusammenlaufen. Die Perspektive wirkt überall in der Horizontalen wie in der Vertikalen.

Manche Fotografen stellen mit Tilt-Shift-Objektiven oder mittels Software Gebäude ins Lot, was einer Missachtung des natürlichen Sehens entspricht. Man kann nicht die vertikale Perspektive begradigen, ohne die Horizontale ebenfalls zu korrigieren. Es käme niemandem in den Sinn, eine Strasse, die im Horizont zusammenläuft, zu begradigen.

In der nächsten Ausgabe dieser Serie der Gestaltungsgesetze wenden wir uns dem Gesetz der Einfachheit zu. Bleiben Sie dran. ↑